„Der Blick auf die durchbohrte Seite Jesu, von dem Johannes spricht (Vgl. 19,37), begreift, was Ausgangspunkt dieses Schreibens war: „Gott ist Liebe“ (1 Joh 4,8). Dort kann diese Wahrheit angeschaut werden. Und von dort her ist nun zu definieren, was Liebe ist. Von diesem Blick her findet der Christ des Weg seines Lebens und Liebens.“ (Nr.12)
Der Blick auf die durchbohrte Seite Jesu offenbart uns unzweideutig die Liebe seines Herzen, das sich für uns geöffnet hat. Das Herz Jesu, durchbohrt für seine Braut, die Kirche. Dies ist der Ort, wo unsere Definition für Liebe ihren Ursprung findet. Blicken wir also auf die Schilderungen des Johannesevangeliums. Dort lesen wir, dass an jenem Tag die Juden Pilatus gebeten hatten, den drei gekreuzigten Männern die Beine zu zerschlagen, um so ihr Sterben zu beschleunigen. Bedingt durch das Zerschlagen ihrer Beine würden sie ersticken, da sie nicht mehr in der Lage waren, sich aufzurichten, um zu atmen.
Also kamen die Soldaten und zerschlugen dem ersten die Beine, dann dem anderen, der mit ihm gekreuzigt worden war. Als sie aber zu Jesus kamen und sahen, dass er schon tot war, zerschlugen sie ihm die Beine nicht, sondern einer der Soldaten stieß mit der Lanze in seine Seite, und sogleich floss Blut und Wasser heraus. Und der, der es gesehen hat, hat es bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr. Und er weiß, dass er wahres berichtet, damit auch ihr glaubt. (Joh 19,32-35)
Damit wir woran glauben? An die Liebe. Indem wir die durchbohrte Seite Jesu betrachten, können verstehen, dass Gott die Liebe ist. Dieser geheimnisvolle Fluss von Blut und Wasser bezeugt die Explosion der göttlichen Liebe im menschlichen Herzen Jesu. Es ist, als könnten die Membranen seines Herzens das Feuer dieser Liebe nicht länger zurückhalten. Die Lanze des Soldaten, die eigentlich verwunden und den Tod sicherstellen sollte, brachte stattdessen einen neuen, mächtigen Ausfluss der Liebe hervor – der Liebe, die zugleich der Beginn und der Ursprung des Kosmos ist.
Warum ist der Gedanke, dass die Liebe dem Universum zugrunde liegt, so abwegig? Welche Tatsache spricht dagegen? In aller Kürze: das Leid.
Es ist unmöglich, das Leiden eines einzigen Menschen zu begreifen, umso weniger das von Milliarden von Männern, Frauen und Kindern, die seit der Erschaffung der Welt gelebt haben und starben. Kriege, Vergewaltigungen, Konzentrationslager, Morde, Hunger, Folter, Kindesmissbrauch.
Wenn Gott die Liebe ist, wie der christliche Glaube es lehrt, wie kann es dann solches Leid zulassen? Warum ist er so blind gegenüber so viel Elend?
Ist er es wirklich? Wenn wir das Blut und das Wasser (Symbole für die Eucharistie und die Taufe) betrachten, die aus dem Herzen des gekreuzigten strömen, dass Gott voller erbarmen ist. Misericordia, das lateinische Wort für Erbarmen, bedeutet „Herz das sich denen schenkt, die im Elend sind“. Gott versprich nirgendwo, unsere Leiden in diesem Leben wegzunehmen. Aber er verspricht, dass er in unserem Elend bei uns ist. Er verspricht, dass wir ihn gerade dort, inmitten unseres Leidens, finden können – und dass er selbst aus den tiefsten Wunden unseres Lebens Gutes hervorbringen kann.
Jesus hat dieses Elend bereits getragen – jedes menschliche Elend, von Anfang bis Ende der Geschichte, deines und meines eingeschlossen. Er hat es in seiner Passion und seinem Sterben auf sich genommen.
Und er ist von den Toten auferstanden, um uns zu zeigen, dass auch wir ein neues Leben beginnen können, ein Leben, in dem das Leiden echten Wert und erlösenden Sinn hat. In seinem letzten Werk, Erinnerung und Identität, das kurz vor seinem Tod veröffentlicht wurde, schrieb Johannes Paul II.:
Christus hat indem er für alle litt, dem Leiden einen neuen Sinn verliehen, er hat es in eine Dimension erhoben, in eine neue Ordnung eingeführt: in die Ordnung der Liebe. Zwar tritt das Leiden mit der Ursünde in die Geschichte des Menschen ein. Die Sünde ist jener Stachel (vgl 1 Kor 15,55-56), der uns Schmerz zufügt, der den Menschen tödlich verletzt. Doch die Passion Christi am Kreuz hat dem Leiden einen radikal neuen Sinn verliehen, es von innen her verwandelt. Sie hat in die menschliche Geschichte, die die Geschichte der Sünde ist, ein schuldloses, einzig auf Liebe angenommenes Leiden eingefügt. Das ist das Leiden, welches das Tor zur Hoffnung und Befreiung öffnet, auf die endgültige Befreiung des Stachels, der die Menschheit peinigt. Es ist das Leiden, welches das Böse mit der Flamme der Liebe verbrennt und aufzehrt und sogar aus der Sünde einen mannigfaltigen Reichtum hervorbringt.“ (EI, S. 208-209)
Können wir uns das überhaupt vorstellen- „ein schuldloses, einzig aus Liebe angenommenes Leiden?“
Er war der allmächtige Sohn des allmächtigen Gottes. Er hätte jederzeit vom Kreuz heruntersteigen können. Er hätte seine Peiniger daran hindern können, ihn auch nur zu berühren. Er aber wählte das Leiden. Er wählte das Kreuz. Er wählte den Tod. „Niemand entreißt mir mein Leben, sondern ich gebe es aus freien Willen hin.“ (Joh 10,18)
Das ist ein schuldloses, einzig aus Liebe angenommenes Leiden. Was für unergründliche Tiefe solcher Liebe! Wer kann das begreifen? Nur aus der Perspektive des schuldlosen Leidens des Gottmenschen, aus diesem Fluss von Blut uns Wasser, das aus dem Herzen Christi fließt, können wir auf all das Leiden in unseren Herzen und in der Welt blicken und immer noch daran festhalten, dass Gott die Liebe ist. Oder wie es Johannes Paul II. einmal ausdrückte: „Wenn es den Todeskampf Jesu nicht gegeben hätte, so wäre die Wahrheit, dass Gott die Liebe ist, im luftleeren Raum hängen geblieben.“ (DSH, S. 94)